Artensterben

Lieber Axolotl,
herzliche Gratulation zum Dienstjubiläum: über 150 Jahre im Labor!

Ich, die schwarzbäuchige Taufliege (Drosophila melanogaster), möchte mich bei Dir bedanken, auch im Namen unserer Versuchstier-Kollegen: des Zebrafischs, der Maus, der Ratte und des Fadenwurms. Als mich die Forscher vor gut hundert Jahren ins Labor holten, warst Du schon ein, ähem, altes Versuchskaninchen. Immer standest Du mir freundlich, wenn auch etwas schweigsam, zur Seite. Bis heute lässt Du Tag für Tag Experimente über Dich ergehen und verziehst nicht einmal Dein gutmütiges Gesicht mit den kleinen Glubschaugen und den wild abstehenden Kiemen.

Und Du bist immer wieder für Überraschungen gut: Was haben wir gestaunt, als Dir zum ersten Mal ein ganzes Bein nachwuchs! Sogar amputierte Organe und Teile Deines Gehirns kannst Du regenerieren! Die wissenschaftlichen Artikel, die mit Deiner Hilfe entstanden, füllen viele Regalmeter. Was hast Du den Professoren und Doktoren nicht alles beigebracht: dass Wunden heilen können, ohne dabei Narben zu bilden. Dass sich Blutgefäße reparieren lassen. Und dass Zellen ein Gedächtnis besitzen.

 

Keine Frage, in all Deinen Dienstjahren musstest Du viel über Dich ergehen lassen. Man amputierte Dir alle möglichen Körperteile, man nähte Dich mit halbierten Artgenossen zusammen, züchtete Dich als durchscheinenden Albino und schickte Dich auf verrückte Hormontrips. Der Lohn für die Strapazen: Du hast überlebt. Paradoxerweise hat Dich das harte Laborleben vor dem Aussterben bewahrt. Denn dort, wo Du ursprünglich herkommst, im Seental von Mexiko-Stadt, sind Deine Artgenossen praktisch verschwunden. Letztes Jahr (2014) ließ sich von ihnen kein einziger mehr blicken. Es sieht also ganz so aus, als wären die Forschungslabore nun Deine einzige Heimat.

Hier hat sich im Laufe Deiner langen Karriere ja einiges verändert. Die Wissenschaftler brauchen uns Labortiere nicht mehr so dringend wie früher. Oft tun’s auch Zellen in einer Petrischale. Eigentlich keine schlechte Voraussetzung für Deinen längst verdienten Ruhestand. Doch seit die Menschen nicht mehr sterben wollen, interessieren sie sich wieder brennend für Dich.

Denn Dein größtes Geheimnis hast Du noch nicht preisgegeben: Wie schaffst Du es nur, ein Leben lang eine jugendliche Larve, sprich Teenager, zu bleiben? Deshalb müssen wir Dir leider mitteilen, dass Dein Antrag auf Pensionierung soeben abgelehnt wurde: Wer ewig jung bleibt, darf nicht in Rente gehen. In diesem Sinne: Auf weiterhin gute Zusammenarbeit!

Deine Drosophila und Laborkollegen

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